Der Mensch als Virenschlepper

von Hugo Caviola
— 2022 —

Die Omikron-Variante des SARS-CoV-2-Virus wurde Ende November 2021 in Südafrika entdeckt und grassierte zwei Monate später in weiten Teilen der Welt. Wenig beachtet wird bisher die Sprache, in der über die Ausbreitung des Virus gesprochen wird. Die mediale Berichterstattung stellt Viren gern als Akteure dar. So heisst es etwa, dass sich das Virus ausbreite oder auf dem Vormarsch sei. Diese sprachliche Aktivierung des Virus ist sachlich falsch, denn Viren brauchen zu ihrer Ausbreitung einen Wirt, zum Beispiel einen menschlichen Körper, der sich bewegt und mit anderen menschlichen Körpern in Kontakt kommt: Die Viren werden ausgebreitet und sind bloss metaphorisch auf dem Vormarsch. Solche Ungenauigkeiten gehören zum menschlichen Sprachgebrauch. Im Fall der Pandemie sind sie aber nicht ohne Belang. Denn sie unterschlagen die Bedeutung menschlicher Mobilität.

Im 14. Jahrhundert dauerte es drei Jahre, bis die Pest von Süditalien bis nach Skandinavien verschleppt war. Heute kann ein Mensch in wenigen Tagen zehntausende Kilometer zurücklegen und Menschen rund um den Erdball anstecken. Schon vor 18 Jahren haben Forscher vom Max-Planck-Institut für Strömungsforschung festgestellt, dass die grossen Drehkreuze der internationalen Luftfahrt, New York, London und Frankfurt, die weltweite Ausbreitung der Seuchen vorantreiben, gleichgültig, wo die Seuche ausgebrochen ist. Die Ansteckungsbahnen folgen den grossen Reisebahnen.[1] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/mathematische-vorhersage-wie-eine-seuche-die-welt-ueberzieht-a-323742.html

Von Jpatokal - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7127535
Weltweites Flugnetz (Von Jpatokal - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7127535)

Die sprachliche Unschärfe des Sich-Verbreitens von Viren steht nicht allein. Wie leicht sagen wir etwa auch von Gerüchten, Nachrichten oder Moden, dass sie sich verbreiten, obwohl es Menschen sind, die sie antreiben? Verantwortlich für diese Ungenauigkeit ist unser Hang, Abstraktes und besonders Bedrohliches zu personifizieren. So lesen wir, das Virus habe einen ganzen Kanton erobert, es sei über Bergamo nach Europa gekommen und habe dort das Zepter übernommen (BaZ, 28.12.2021, S. 4) und klopfe nun an die Tür (BaZ, 29.12. 2021, S. 7). Solche Metaphern verleihen der viralen Gefahr ein «Gesicht» und unterstellen dem Virus einen Willen, den es nicht hat.   

Bedenklich ist diese virenaktivierende Sprachform, weil sie uns den Blick auf unsere eigene Verantwortung bei der Viren-Ausbreitung unterschlägt. Zweifellos sind Viren Quasi-Subjekte – sie machen uns schliesslich krank – doch es sind Menschen, die sie (unabsichtlich) um den ganzen Erdball tragen.

Gefahr droht uns auch von den Corona-«Wellen» und vom «Omikron-Sturm» (NZZ, 30.12.21). Die Metaphern gaukeln uns vor, ein menschengetriebener Vorgang sei eine Naturgewalt. Die Wellenmetapher besticht, doch sie rückt das Geschehen von uns weg und erschwert die Einsicht, dass epidemische Wellen und Stürme ihre Dynamik auch aus menschlichem Handeln beziehen, darunter die virenstreuende Mobilität.

Mobilität bedeutet heute Freiheit und gilt als natürlich und normal. Reisen und Infektion dagegen finden intuitiv (noch) in getrennten Diskurs-Welten statt. Wer verbindet schon Urlaubswünsche und Fernweh auf Anhieb mit Krankheit und Infektion? Diese Blindheit verstellt uns die Einsicht, dass wir immer auch potenzielle «Virenstreuer» sind. Wir akzeptieren neue Corona-Reiseregeln, doch wünschen wir uns sehnlich die sog. Normalität zurück. Fallen die Reiseeinschränkungen, so stellt sich alsbald das ‘normale’ Reisefieber wieder ein. Und mit diesem sind auch die Streubedingungen für alte und neue Viren wieder da. Der Sprachgebrauch liefert die stützenden Sichtweisen dazu.

Welches sprachliche Rezept bietet sich bei dieser Diagnose an? Eine präventive Massnahme wäre wohl, sich Reisende vermehrt auch als Virenträger und -schlepper vorzustellen und die Subjekte der Verbreitung zu benennen. Der neudeutsche Ausdruck Superspreader tut dies drastisch und direkt. Statt vom Vormarsch der Omikron-Variante zu fabulieren, wäre es sachgerechter zu sagen: Wir Reisenden streuen die Viren, sorgen für ihre Ausbreitung. Das Passivum trifft die Faktenlage präzis, weil es klarmacht, dass Viren Wirte brauchen: Omikron breitet sich dann nicht aus, sondern es wird verbreitet, gestreut, verschleppt, übertragen, eingeschleust, importiert, exportiert. Auch Wörter wie Verbreitungswege und Übertragungsketten schärfen das Bewusstsein, dass wir Menschen – nicht die Viren – die wahren Triebkräfte der weltumspannenden Seuchen sind. Das Virus reist bloss mit - als blinder Passagier. Eine etwas lästige Einsicht, aber ein Mosaikstein zu mehr Sicherheit.

(Titelbild: Von Josullivan.59 - Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5903874)