Bahn, Spur, Streifen und Inseln

von Hugo Caviola
— 2020 —

Strassen werden begrifflich fein differenziert. So unterscheiden wir etwa zwischen Fahrbahn, Trottoir, Überholspur, Fahrrad- und Fussgängerstreifen, Verkehrsinsel und vielen weiteren Ausdrücken. Diese entscheiden mit darüber, wie wir über das Verkehrsgeschehen denken und welche Rollen wir bestimmten Verkehrsteilnehmenden zuweisen. Im Folgenden gehen wir mit Methoden der Diskurslinguistik der Frage nach, wie in einigen dieser Wörter die Interessen des motorisierten und des Fussverkehrs zum Ausdruck gelangen.

Hinter dieser Frage steht eine zweite, die nach einem suffizienten, d.h. massvollen Ressourcenverbrauch. Zu Fuss Gehende und Radfahrer schneiden im Ressourcenverbrauch weit besser ab als der motorisierte Individualverkehr. Wir wollen wissen, welche sprachlichen Ausdruckformen suffiziente Mobilitätsformen unterstützen und welche sie behindern. Dabei spielen auch die Machtverhältnisse eine Rolle, die durch Sprache ausgedrückt werden. Wir wenden uns zuerst der Fahrbahn zu.

1. Fahrbahn

Im Mittelalter bedeutet das Wort Bahn noch ein «Durchhau im Wald», war also etwa gleichbedeutend mit einer Schneise, die in die Wildnis geschlagen wurde. Auch heute sagen wir noch, dass wir uns einen Weg durch den Schnee, durch hohes Schilf oder durch Dickicht bahnen. Auch metaphorische Ausdrücke wie sich Bahn brechen und bahnbrechend verstehen die Bahn noch als Schneise (Duden 7, 1997, S. 58).

Als Fahrbahn gilt heute jener Teil der Strasse, auf dem sich der Automobilverkehr «Bahn bricht», d.h., auf dem motorisiert gefahren wird. Wie beim Schneisenschlagen wirken Menschen auch auf einer Fahrbahn kraftvoll auf die Natur ein. Fahrbahnen zerschneiden die Landschaft ganz ähnlich wie die Schneisen, die einst in die Wildnis geschlagen wurden. Am machtvollsten kommen Autobahnen daher: Sie durchtrennen die Landschaft in geradlinigen Schneisen und überziehen die umliegenden Gebiete mit Lärm und Abgasen.

Was für Fahrbahnen gilt, ist heute in Gesetzen festgeschrieben. Stehende Fahrzeuge oder spielende Kinder sind auf ihnen ebenso unerwünscht wie Fussgänger. Von Fussgängern heisst es im Strassenverkehrsgesetz, sie hätten «die Fahrbahn vorsichtig und auf dem kürzesten Weg zu überschreiten, nach Möglichkeit auf einem Fussgängerstreifen» (Art. 49 Abs., 2 SVG). Der motorisierte und der Fussverkehr vertragen sich schlecht.

Dies war nicht immer so. Zu Beginn des Automobils gehörte die Strasse noch allen; Fussgänger, Automobile, Fahrräder und Kutschen teilten sich die Strassenfläche und kamen ohne feste Regeln aus. Noch 1922 entschied das Aargauer Obergericht, «dass ein Fussgänger auf der Strasse vollständig frei ist, wo er gehen will (...)», eine Gefahr gehe allerdings vom Automobil aus, da sich dieses «mit bedeutend grösserer Geschwindigkeit als die Fussgänger fortbewegt» (Vierteljahresschrift für aargauische Rechtsprechung, Band 22, S. 103). 1932 war in der Schweiz der Machtkampf zugunsten des Autos entschieden. Ein neues Bundesgesetz verwies die Fussgänger auf die Trottoirs und gewährte dem motorisierten Verkehr auf der Strasse freie Fahrt. Dass diese Verdrängung auch sprachliche Seiten hat, ist aus den USA belegt. Mit dem Aufkommen des Automobils kam für Fussgänger der Ausdruck «jaywalkers» in Gebrauch. Wegen ihrer schwer berechenbaren Bewegungen im Strassenverkehr wurden zu Fuss Gehende als Tölpel (jays) bezeichnet, ein Ausdruck, den die Automobilindustrie nach Kräften propagierte. Mit der sprachlichen Abwertung der Fussgänger war ein wichtiger Schritt getan, die Bewegungsform der Autos – nämlich motorisierte Geschwindigkeit – aufzuwerten (Stengel 2011, 308-309 und Norton 2008).

Die Domäne des Automobils ist seither die Fahrbahn. Dies ist heute nicht nur gesetzlich fixiert, sondern durch den alltäglichen Sprachgebrauch auch tief in unseren Köpfen eingebrannt. Die Computerlinguistik kann diese «Brennspuren» belegen, indem sie aus grossen Textmengen digital ermittelt, welche Wörter im Sprachgebrauch häufig zusammen auftreten. Solche Kollokationen prägen den Frame, den Deutungsrahmen, den ein Wort in unseren Köpfen aufruft. Häufige Wortverbindungen zeigen an, welche Sinnbereiche wir gedanklich verknüpfen und welche - meist unbewussten – Wertungen wir damit verbinden. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache fördert zu den Kollokationen von Fahrbahn Interessantes zutage. Mit dem Wort Fahrbahn gedanklich gekoppelt sind nämlich

  • die Verben abkommen von, schleudern auf (z.B. Das Auto kam von der Fahrbahn ab , oder schleuderte auf der Fahrbahn) → Damit wird also eine sog. Präpositionalgruppe aufgerufen.

  • die Adjektive regennass und eisglatt (z.B. Die Fahrbahn war regennass. ) → Diese Adjektive erscheinen als Attribute des Substantivs Fahrbahn. Und zusätzlich

  • das Verb überqueren.

Was sagen diese «Wortseilschaften» über den gedanklichen Zuschnitt des Ausdrucks Fahrbahn aus? Die ersten vier dieser Wörter - abkommen von, schleudern auf, regennass und eisglatt – weisen auf Gefahren hin. Sie implizieren, dass das Fahren auf Fahrbahnen bei Regen und Eis gefährlich ist. Auffällig ist, dass der wichtigste Faktor der angedeuteten Gefahren, die Geschwindigkeit, in den Kollokationen fehlt. Was das Aargauer Gericht 1922 noch ausdrücklich erwähnte, dass sich Fahrzeuge nämlich «mit bedeutend grösserer Geschwindigkeit als die Fussgänger fortbeweg(en)», ist im 21. Jahrhundert keiner Erwähnung mehr wert. Geschwindigkeit gilt auf Fahrbahnen als selbstverständlich. Auch die Hinweise auf Eisglätte und Regennässe zeigen indirekt Geschwindigkeit an. Sie verraten, wie schnell man auf trockenen und eisfreien Fahrbahnen fahren kann. Solche Kollokationen festigen in unseren Köpfen ein Verständnis von Fahrbahn als einem Ort, für den gilt: Hier wird mit beträchtlicher Geschwindigkeit gefahren. Fussgänger haben auf ihr nichts zu suchen.

Nun wird man einwenden, dass wir dies längst aus unserer Erfahrung im Strassenverkehr wissen und dazu keine Sprachanalyse brauchen. Das mag stimmen. Bedenkenswert ist aber, dass wir all dies auch wüssten, wenn wir nie in einem Auto gesessen und noch nie eine Fahrbahn gesehen hätten. Allein das Hören-Sagen, der Sprachgebrauch der Zeitungen, des Radios, Erzählungen aller Art - flüstern uns ohne Unterlass ein: Eine Fahrbahn ist ein Ort, an dem sich Motorfahrzeuge schnell bewegen und dadurch Menschen gefährden. Kurz: Zu Fuss Gehende gehören nicht auf die Fahrbahn! Diese Merkmale «kleben» gleichsam am Wort Fahrbahn. Und gravierender: Mit dem Wortgebrauch bestärken wir fortwährend seine gesellschaftliche Geltung. Wenn wir also etwas ändern wollen – etwa die Strasse vermehrt wieder den Fussgängern zugänglich machen – sind wir gut beraten, den Ausdruck Fahrbahn zurückhaltend zu gebrauchen.

2. Fahrspur und Fahrstreifen

Laut dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache bezeichnet ein Streifen «ein längliches, bandförmiges Stück von etwas» (DWDS). Der Fahrstreifen meint daher eine bandförmige Markierung der Fahrbahn bzw. der Strasse. Dasselbe gilt für die Fahrspur. Während der Streifen eher eine längliche Fläche, etwas zu einem Zweck Markiertes bezeichnet, verweist die Fahrspur zusätzlich auf Bewegung und Richtung. So gibt es Abbiege- und Überholspuren, aber auch Kriech- und Pannenspuren. Man kann einspuren und die Spur wechseln.

Beide Begriffe gelten auch für Zweiräder. So gibt es Fahrradspuren und –streifen. Spuren sind für Fahrgeräte alle Art, nicht aber für zu Fuss Gehende geschaffen. Denn Gehwege besitzen keine Spuren. Wohl gibt es Fussgängerstreifen, doch Fussgängerspuren fehlen. (Abb. 1)

Abbildung 1: Fussgängerspur
Abbildung 1: Fussgängerspur

Im Ganzen organisieren Spuren und Streifen ein Miteinander von Fahrzeugen unterschiedlicher Geschwindigkeiten und Zielorte. Sie schaffen auf der Fahrbahn Ordnung und Sicherheit. (Tabelle 1).

Fahr-

Überhol-

Pannen-

Abbieg-

Kriech-

Park-

Rad-, Velo-

Auto-

Fuss-

Fussgänger-

Bahn

Fahr­bahn

*Velo­bahn

Auto­bahn

Spur

Fahr­spur

Überhol­spur

Pannen­spur

Abbieg­spur

Kriech­spur

Rad­spur

Streifen

Fahr­streifen

Überhol­streifen

Pannen­streifen

Abbieg­fahr­streifen

Kriech­streifen

Park­streifen

Rad­streifen

Fuss­gänger­streifen

Feld

Park­feld

Platz

Park­platz

Strasse

Fahr­strasse

**Velo­strasse

Auto­strasse

Weg

Fahr­weg

Rad­weg

Fuss­weg

Tabelle 1: Wortbildungen aus Verkehrsorten (senkrecht) und Fortbewegungsarten (horizontal)

* Vision von Provelo Luzern und VCS Luzern. Velobahnen sollen grosse Distanzen überwinden. Diese sind autofrei, Velos auf ihnen vortrittsberechtigt (VCS-Magazin 4/17, S. 39). ** 2016–2019 Pilotversuch in den Städten Basel, Luzern, Bern, St. Gallen und Zürich: 30 km-Zone, Velos sind vortrittsberechtigt. Ergebnisse siehe www.mobilitaet.bs.ch

3. Leben am Verkehrsstrom

Im Verkehr findet eine eigentümliche Verwandlung der Automobile statt. Obwohl wir von tonnenschweren Blechkarossen sprechen, sagen wir, der Verkehr sei flüssig, er stocke oder staue sich. Gut ist der Verkehr offensichtlich immer dann, wenn er fliesst. Man kann ihn wie Wasser umleiten, oder er sickert in die Wohnquartiere ein. Verkehr rauscht wie ein Wasserfall, er schwillt an oder ab. Man kann sich vor dem Verkehrsfluss auf Verkehrsinseln retten. Zu Ferienzeiten bilden sich Reisewellen, die durch die Gotthardröhre fliessen. Überblicken wir diese Einzelmetaphern, so zeigt sich, dass sie in der Vorstellung (der sog. konzeptuellen Metapher) des Flusses zusammenfallen (vgl. Tabelle 2). Wir verstehen den motorisierten Verkehr insgesamt als Flüssigkeit. Dies hat Folgen für die Fussgänger. Die Flussmetapher versetzt Fussgänger an das Ufer eines reissenden Stroms, der sie erfassen und in den Tod reissen kann. Einige Metaphern passen auch ins Bild eines Blutkreislaufs, der fliessen oder stocken und bis zu einem Verkehrskollaps führen kann. Vergegenwärtigen wir uns diese Bilder, so zeigt sich, dass Fussgängerinnen und Fussgänger heute nicht weniger gefährlich leben als ihre Vorfahren, die ihre ersten Bahnen in die mittelalterliche Wildnis schlugen. Das Strombild deutet die vorbeibrausenden Autos als mächtige Naturgewalt. Diese konzeptuelle Metapher ist entscheidend für die Art, wie wir über Verkehr denken und wie wir in seinem Zusammenhang handeln (vgl. Caviola/Kläy/Weiss 2018, S. 43-45).

Redeweisen über Wasser

Metaphorische Redeweisen über Verkehr

Wasser fliesst, stockt, strömt, schwillt an, rauscht, tost etc.

Verkehr fliesst, strömt etc.

Man kann Wasser stauen, leiten, umleiten, kanalisieren, drosseln etc.

Man kann Verkehr stauen, umleiten, kanalisieren etc.

Wasser fliesst durch Leitungen und Röhren.

Verkehr fliesst über Umleitungen und durch die Gotthardröhre.

Wasser bildet Tropfen.

Im Schwerverkehr am Gotthard exisiert ein Tropfenzählersystem.

Man kann Dinge wie z.B. Fische aus dem Wasser ziehen.

Man kann Fahrzeuge aus dem Verkehr ziehen.

Gewässer können Inseln enthalten.

Im Verkehrsfluss existieren Verkehrsinseln.

Wasser gibt es im Aggregatszustand von Eis und Schnee.

Verkehr bildet Blechlawinen.

Wasser bildet Wellen.

Ampeln schaffen grüne Wellen.

Redeweisen über Blut

Blut stockt.

Der Verkehr stockt.

Blut fliesst durch Adern.

Es gibt Verkehrsadern.

Kommt der Blutkreislauf zum Erliegen, droht ein Herzinfarkt.

Kommt der Verkehr ganz zum Stillstand, so kommt es zu einem Verkehrsinfarkt.

Tabelle 2: Die konzeptuelle Metapher VERKEHR IST EIN FLUSS und ihre Einzelmetaphern

Welche Wertungen gehen mit der Verkehr- ist- ein- Fluss-Metapher einher?

  • Naturereignisse mögen uns manchmal unangenehm erscheinen, doch wir nehmen sie als gegeben hin. Wenn Verkehr eine Naturgewalt ist, wird er als von Menschen Gemachtes unsichtbar. Der Verkehr erscheint als etwas Natürliches, das wir auch als solches akzeptieren. Dass Verkehr fliesst und sich manchmal staut, erscheint folglich als selbstverständlich, natürlich und ‚gut’. Die Strommetapher verwandelt etwas Menschengemachtes in eine Naturgewalt.

  • Wenn Verkehr ein Naturgeschehen ist (ähnlich wie der Gas-, Wasser- und elektrische Strom), behandeln wir ihn auch leicht wie andere Naturphänomene und weisen die Zuständigkeiten für diese Phänomene vorrangig den Natur- und technischen Wissenschaften zu. (So führt zum Beispiel die ETH ein Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme). Psychologische, soziale und ethische Aspekte, die dem Verkehr ebenfalls anhaften, geraten so schwer in den Blick und werden erst zweitranging behandelt.

  • Die Strommetapher rückt auch die Automobilistinnen und Automobilisten aus dem Blick. Wenn Verkehr ein Strom ist, kommt den Automobilisten die Rolle gesichtsloser «Tropfen» zu. Im Verkehrsstrom werden die Fahrzeugführenden als Individuen «verflüssigt» und damit anonymisiert. Sie lassen sich vom allgemeinen Verkehrsstrom mittragen. Nicht nur werden ihr Wille und ihre Verantwortung für ihr Tun ausgeblendet, auch die Macht, die von ihnen ausgeht, erscheint als Teil des grossen ‚Naturgeschehens’ Verkehr.

  • Ein natürlicher Fluss wird durch die Schwerkraft zum Fliessen gebracht. Nicht so der Verkehr. Die Rede vom Verkehrsfluss verdeckt damit auch die technische Verbrennung von fossilem Treibstoff. Dass Automobile nur dank benzinschluckenden Motoren laufen und entsprechend Schadstoffe ausstossen, wird von der Flussmetapher verdeckt.

  • Im Februar 2016 stimmte eine Mehrheit von 57 % der Schweizerinnen und Schweizer für den Bau einer zweiten Gotthardröhre. Den meisten von ihnen war wohl nicht bewusst, dass die politische Diskussion um diese Frage von der Wassermetapher beherrscht war. Und damit war das Ja zum Tunnel-Vorlage schon beinahe vorentschieden. Denn wenn Verkehr ein Strom ist, dann fliesst er wie Wasser durch eine Röhre. Die Röhrenmetapher bestärkt, was uns die Wassermetaphern fortwährend einflüstern: Verkehr, der fliesst, ist eine gute (weil natürliche) Sache. Was gibt es also Natürlicheres, als dem alpenquerenden Verkehr eine zweite Röhre zu bauen? (Abb. 2) Sobald es den Befürwortern des zweiten Tunnels gelungen war, die Röhrenmetapher in den Köpfen der Bevölkerung als selbstverständlich zu platzieren, war ein Überzeugungsmittel gesetzt, das viel stärker wirkte als manch vernünftiges Argument. Wäre die Kampagne um einen zweiten Gotthard-Tunnel geführt worden, wäre die Abstimmung vielleicht anders entschieden worden. Bestimmt hätten Implikationen des Tunnels wie ‚Dunkelheit’, ‚Furcht’, ‚hat er ein Ende?’ ihre Wirkung getan.[1] Auffällig ist auch, dass negative Pressemeldungen als Staus am Gotthard-Tunnel und nicht als Staus an der Gotthardröhre vermittelt werden.

Abbildung 2: Gotthardröhre und Verkehrsstrom
Abbildung 2: Gotthardröhre und Verkehrsstrom

4. Fussgänger in Gefahr

Der Frame des Verkehrsstroms hält nicht nur für die Automobilisten, sondern auch für die Fussgänger bestimmte Rollen bereit.

Was unterscheidet einen Wanderer von einem Fussgänger? Entscheidendes, verraten uns die Verben, die diese typischerweise begleiten. Im Fall der Wanderer sind diese grüssen, begegnen, locken und erfreuen. Wanderer werden also typischerweise gegrüsst, man begegnet ihnen, die Landschaft lockt sie etc. Der Frame der Wanderer entwirft im Ganzen ein erfreuliches Persönlichkeitsbild. Ganz anders der Fussgänger. Seine häufigsten Begleitverben sind überfahren, anfahren, überrollen, übersehen, umfahren und erfassen. Folgt man der Wortstatistik, den Kollokationen des Wortes Fussgänger, so leben Fussgänger in ständiger Todesgefahr.

Etwas Weiteres kommt hinzu. Die Verben erfassen, überfahren, anfahren etc. erscheinen typischerweise in Sätzen dieser Art: Ein Kind bzw. ein Fussgänger wurde von einem Fahrzeug erfasst, angefahren oder überfahren. Die aktive Satzform: Ein Fahrzeug erfasste bzw. überfuhr ein Kind kommt weitaus seltener vor. Noch unüblicher ist die Formulierung: Der Fahrzeuglenker / die Fahrzeuglenkerin erfasste den Fussgänger. Mit der Passivformulierung werden die Täter, von denen die Gewaltausübung ausgeht, sprachlich unsichtbar gemacht. Dass Fussgänger zu den Schwachen im Verkehr gehören, ist uns intuitiv aus unserer Verkehrserfahrung bekannt. Dass uns unsere Sprache diese Schwächung aber fortwährend einhämmert und die Mächtigen dabei ausblendet, ist wahrscheinlich den wenigsten bewusst.

Hinzu kommt etwas Wahrnehmungspsychologisches. Nigel Thrift hat festgestellt, dass sich fahrzeugführende Personen als Teil ihres Gefährts wahrnehmen und zu einem Mensch-Maschinen-Hybrid verschmelzen (Thrift 2004, 47). Diese Verschmelzung zeigt sich auch in der Art, wie wir über Automobilisten sprechen. Nähert sich ein Fahrzeug, so rufen Fussgänger nicht « Vorsicht, Automobilist» oder «Vorsicht, Velofahrerin». Die Kurzformeln lauten eher: «Vorsicht, Auto!», «Vorsicht, Velo!» Der Automobilist und die Velofahrerin fallen nicht als Personen, sondern als Fahrzeuge ins Gewicht. Für zu Fuss Gehende sind Strassen von gefährlichen Metallkäfigen, «iron cages» (Urry 2006, 22), besiedelt. Die Käfige verbergen die Ausdruckskraft der Gesichter jener, die sie führen. Dies und ihre Geschwindigkeit machen sie gesichtslos und anonym.

In einer Gesellschaft, in der Autos und Geschwindigkeit hohe Anerkennung geniessen, wirkt dieses Miteinander offensichtlich schuldentlastend. Wird ein Fussgänger getötet, beurteilen die Gerichte dies oft als fahrlässige Tötung, nur in sog. Raserunfällen werden Täter neu manchmal wegen eventualvorsätzlicher Tötung verurteilt.

Wir halten fest: Fahrbahnen markieren ein «car-only environment» (Urry 2006, 22). Sie definieren einen Raum, der einzig als Durchgangsraum für Autos gilt und zu Fuss Gehende ausschliesst.

Fussgängerstreifen: Kreuzungen der besonderen Art

Zwei Merkmale machen den Fussgängerstreifen sprachlich auffällig.

Erstens, dass man ihn nicht als Kreuzung bezeichnet, obwohl er der Sache nach ein Ort ist, wo sich Fussgänger und Automobile in geregelter Form kreuzen.

Zweitens, dass von Fussgängern gesagt wird, sie überquerten die Fahrbahn. Sprachlich werden sie dadurch abgewertet. Mit dem Ausdruck quer wird auch verkehrt, nicht ganz richtig assoziiert. So sagen wir etwa, etwas stehe quer in der Landschaft, wenn eine Sache dem Gängigen zuwiderläuft. Auch gibt es die Quertreiber, Menschen, die notorisch den normalen Ablauf eines Vorgangs behindern, wie zum Beispiel die Spielverderber und Querulanten. (Im Englischen bedeutet queer auch homosexuell, kennzeichnet also Menschen, die in ihrer sexuellen Ausrichtung «quer» zur Mehrheit stehen.) Diese Konnotationen des Verkehrten hängen auch dem Verb überqueren an. Sie werten die Bewegung der zu Fuss Gehenden als dem Richtigen zuwiderlaufend ab. Die Fussgänger tun also etwas, das «quer» zu dem steht, was die Hauptbestimmung der Strasse ist, nämlich die Bewegung der Automobile zu gewährleisten. Verkürzt ausgedrückt: Automobile tun das Richtige, Fussgänger das Falsche. Kaum ein Automobilist würde von sich sagen, er habe eben einen Fussgängerstreifen überquert. Eher würde er sagen, er sei eben über einen Fussgängerstreifen gefahren oder habe einen solchen passiert. Auch gibt es, wo sich Auto- und Fussverkehr kreuzen, meist Fussgängerüber- oder -unterführungen, kaum aber Autoüber- oder Unterführungen. Darin zeigen sich deutlich eine Hierarchie und ein Machtgefälle. Automobile brechen sich Bahn, Fussgänger weichen nach oben oder unten aus (Abbildung 3).

Abbildung 3: Autoüberführung
Abbildung 3: Autoüberführung

Fussgängerstreifen und ihre Zeichen

Auto-Fussgänger-Kreuzungen sind heute mit breiten gelben Streifen markiert, vielerorts gelten sie auch als Zebrastreifen. Die gelbe Farbe teilen Fussgängermarkierungen mit den Markierungen der Wanderwege. In der Schweiz steht die Farbe gelb offensichtlich für Fussgänger.

Welche Zeichen vermitteln nun Fussgängerstreifen den Automobilisten und den zu Fuss gehenden? Angesichts des Fussgängerstreifens eröffnen sich den zu Fuss Gehenden zwei Deutungsmöglichkeiten. Sie können sich denken:

  1. Hier sind Balken, optische Rammböcke, die sich mir bei meinem Weg über die Fahrbahn entgegenstellen und mich bremsen.

  2. Die Streifen bieten sich meinem Auge als «Trittsteine» an, auf denen ich den Verkehrs»fluss» überqueren kann. Die Abstände zwischen den Balken entsprechen ungefähr meinen Schrittlängen.

Aus der Sicht der Automobilisten suggerieren Fussgängerstreifen jedoch nicht: Vorsicht, bremse!, sondern vielmehr: Fahre zu! Die Balken liegen in Fliessrichtung des Verkehrs und zeigen den Automobilisten so ihre eigene Fahrrichtung an. Der Verkehrsstrom trägt sie gleichsam zwischen den Trittsteinen hindurch (vgl. dazu umverkehr 118, Mai 2018, 9).

Abbildung 4: englischer Fussgängerstreifen (Foto: 1000 Words / Shutterstock.com)
Abbildung 4: englischer Fussgängerstreifen (Foto: 1000 Words / Shutterstock.com)

Englische Fussgängerstreifen unterscheiden sich von schweizerischen in wesentlichen Merkmalen (Abb. 4). Dem nahenden Automobilisten signalisieren geknickte Balken, die in Fahrrichtung liegen: «Bremse deine Fahrt!». Eine rechtwinklig zur Fahrbahn verlaufende unterbrochene weisse Linie zeigt die Gehrichtung der Fussgänger an. Zusätzlich zeigen zwei blinkende Ampeln (sog. Belisha Beacons) den nahenden Automobilisten den Fussgängerstreifen von Weitem an. Auch findet man bei einigen Fussgängerstreifen zusätzlich die Gehfläche leicht aufgepflastert, sodass ein Fahrzeug abbremsen muss, will es bei seiner Fahrt über den Streifen keinen Schaden nehmen. Im Ganzen trägt diese Signalisierung den Interessen der zu Fuss Gehenden weit stärker Rechnung als die gelben Trittbalken der kontinentalen Fussgängerstreifen.

Abbildung 5: dreidimensionale Fussgängerstreifen (Foto: Thorir Ingvarsson / Shutterstock.com)
Abbildung 5: dreidimensionale Fussgängerstreifen (Foto: Thorir Ingvarsson / Shutterstock.com)

Eine Neuerung bieten dreidimensionale Fussgängerstreifen wie aus dem isländischen Dorf Ísafjörður (Abbildung 5). Sie begegnen den Automobilisten als optisches Hindernis. Die Basler Grossrätin Michelle Lachenmeier hat deshalb im November 2017 bei der Basler Regierung einen Vorstoss eingereicht, wonach diese neuen Streifen in Basel getestet werden sollten. Sie böten eine kostengünstige Massnahme, um in der Nähe von Schulen und Kindergärten mehr Sicherheit zu schaffen (BZ 1.1.2017).

Zusammenfassung und Folgerungen

Sprachliche Ausdrücke ebenso wie grafische Markierungen tragen zur Regelung des Verkehrsgeschehens bei. Bisher wurde wenig beachtet, dass diese unterschwellig auch Machtverhältnisse festlegen. Sie tun dies zunächst, indem sie die Perspektiven bestimmter Akteure eröffnen und andere Sichtweisen ausschliessen. Sie legen für die Akteure bestimmte Rollen fest.

Die Frames von Fahrbahn und Spur signalisieren:

  1. Hier fahren Autos, und zwar mit beträchtlicher Geschwindigkeit.

  2. Hier sind Fussgänger fehl am Platz. Radfahrer kommen einzig auf der Radspur vor, wo sie Teil der Fahrbahn werden.

  3. Von Fahrbahnen und Fahrspuren geht durch Geschwindigkeit und Lärm Gefahr aus.

  4. Die Flussmetapher verwandelt den motorisierten Verkehr in ein Naturgeschehen. Dadurch privilegiert und anonymisiert sie die Lenker von Kraftfahrzeugen. Ihre Verantwortung und ihr Treibstoffverbrauch werden ausgeblendet.

  5. Fusswege, die Fahrbahnen kreuzen, gelten als zweitranging. Dies zeigt sich an Ausdrücken wie Querung: Überquerung, Unterquerung. Die Fussgängerstreifen drücken diese Zweitrangigkeit aus, indem sie als «Trittbalken im Verkehrsfluss» dargestellt sind.

Folgerungen

  1. Die oben genannte Wirkung sprachlicher Formulierungen sollten bewusst gemacht werden. Die Einsicht, dass Sprache nicht suffiziente Interessen unterstützt, kann eine Sprachveränderung und –erneuerung anstossen.

  2. Will man die Interessen der zu Fuss Gehenden stärken, sollte man die Verkehrsflussmetapher (Verkehr strömt, staut sich etc.) und die Ausdrücke Fahrbahn und überqueren (für Fussgänger) zurückhaltend gebrauchen. Als Alternativen für die Flussmetaphern bietet sich die Maschinenmetapher an: Der Verkehr wäre dann klarer erkennbar als Menschenwerk. Das hiesse: Der Verkehr dröhnt, brummt, klemmt, ist blockiert statt wie bisher er rauscht, fliesst, staut sich. Oder als soziales Phänomen: Warteschlangen statt Staus.

  3. Die Bedeutung von Fussgängern kann gestärkt werden, indem man die für sie bestimmten Räume und Rechte sichtbar macht. Dies kann geschehen

    • durch noch klarer markierte Fussübergänge wie in England oder durch dreidimensionale Fussgängerstreifen.

    • Bei Druckknopfampeln lässt sich das Vortrittsrecht, d.h. das Dauergrün des Kraftfahrzeugverkehrs, zugunsten des Fussverkehrs umdrehen. Neu hätten an Fussgängerstreifen Fussgänger Dauergrün und Kraftfahrzeuge müssten sich anmelden, d.h., ihre Annäherung würde mittels einer Induktionsschleife in der Fahrbahn automatisch registriert. Dieses Model wurde in Graz erprobt und anschliessend beibehalten (Schneidewind, Zahrnt 2013, S. 98).

Literaturverzeichnis

Caviola, Hugo; Andreas Kläy; Hans Weiss (2018). Sprachkompass Landschaft und Umwelt. Wie Sprache unseren Umgang mit der Natur prägt. Bern: Haupt.

Norton, Peter D. (2008). Fighting Traffic. Cambridge: MIT Press.

Scheidewind, Uwe; Angelika Zahrnt (2011). Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik. München: oekom.

Stengel, Oliver (2011). Suffizienz. Die Konsumgesellschaft in der ökologischen Krise. München: Oekom.

Thrift, Nigel. (2004). Driving in the City. Theory, Culture and Society 31: 41–59.

Urry, John (2006). Inhabiting the Car. Sociological Review. 17-32.